So nannte Jochen v. Kalckreuth ein Kapitel in einem seiner Bücher. Und genau deshalb steht König Ortler auch seit langem weit vorn auf der Liste meiner fliegerischen Wunschziele. Bisher hatte ich das Ortler-Massiv nur von Norden, aus respektvoller Distanz, vom Reschensee aus, und bei Ost-West-Querungen der vergletscherten Talschlüsse von Kaunertal und Pitztal bewundert. Oft war bei diesen Flügen die Wetteroptik südlich des Hauptkamms deutlich schwächer, so dass ein Anflug von Norden wenig einladend erschien. Bei meinem diesjährigen Frühjahrsaufenthalt in Sondrio habe ich mich der Ortler-Gruppe nun erstmals von Süden nähern können.
Die anhaltende Nordostlage in der zweiten Märzhälfte brachte der italienischen Alpensüdseite im Addatal zwischen Comer See und Bormio zwar nur wenige gute Streckentage, jedoch täglich die Chance auf vier bis sechs Trainingsstunden mit turbulenter Hangthermik, rotorartigen Aufwindbändern über dem Tal und katabatisch ausgelöstem Steigen in den Abendstunden bis zum Sonnenuntergang. An den Südhängen war der Schnee unterhalb von 2000 Metern über Meereshöhe bereits weitgehend verschwunden, aber das hohe Gelände Richtung Bernina im Norden und die südlich von Sondrio in Ost-West-Richtung verlaufenden Alpi Orobica zeigten noch meterdicke Schneelagen. Dabei sorgte der Nordost für sehr frische Temperaturen in der Höhe, zeitweise bis unter minus 15 Grad zwischen 2500 und 3000 Metern.
Mein Plan für den 21.März bestand darin, im Jo-Jo zwischen Locarno im Westen und dem Talkessel von Bormio im Nordosten hin- und herzufliegen und dabei die Region und die thermikstarken Massive besser kennenzulernen. Wegen der – jedenfalls für mich – nicht immer absehbaren Leeturbulenzen durch den die Grate überströmenden Nordost und wegen der sehr schwierigen Außenlandesituation auf den 70 Kilometern zwischen Sondrio und Bormio nahm ich mir vor, dabei eine sichere Zielgleitzahl von 25 zum Flugplatz Caiolo nicht zu überschreiten.
Um 11.15 Uhr UTC geht es am Schleppseil der rot-gelben Pawnee der Oerlinghausener Flugschule zügig in die Höhe. Nach einigen Hangachten am Hausberg befördert mich der erste Bart an der ‚Glatze‘, einem markanten unbewaldeten Vorberg auf der Talnordseite, mit ca. 1-1,5 Sekundenmetern auf die Höhe der flaumigen Cumuli in 2700 Metern MSL. Mit dieser Höhe über dem – nach den Maßstäben der Nordalpen – niedrigen Talgrund von knapp 300 Metern kann ich zügig und mit geringem Höhenverlust entlang der Grate bis zum Nordostufer des Comer Sees gleiten. Zunehmende Turbulenz und das Wellenmuster auf dem See warnen deutlich, dass hier der überregionale Nordostwind, kanalisiert durch die Täler aus Richtung Maloja- und Spluegenpass, kräftige Lees über dem See erzeugen kann. Den geplanten Talsprung zum Piz Ledu auf der Westseite des Sees lasse ich daher fallen und orientiere mich an den dunstig angedeuteten Cu’s nördlich in Richtung Bergell. Den Grat des Monte Gruf kann ich im turbulenten Aufwind nur knapp überhöhen und hinter der Malojakerbe das Seenplateau bei St. Moritz ausmachen. Ohne den Gegenwind würde meine Höhe von hier sicher bis ins noch tief verschneite Engadin und zum Flugplatz Samedan reichen.
Auf dem Rückflug nach Osten quere ich nördlich von Sondrio das Valmalenco-Tal, das von der Bernina-Kette nach Norden abgeriegelt wird. Staubewölkung leckt über die gesamte Breite des imposanten Grats. Vor dem Aprica-Rücken knickt das Addatal aus der West-Ost-Richtung nach Nordosten ab. Gutes Steigen an der Cima Redasco macht den Weg frei für eine Talquerung auf die Ostseite zum Skigebiet Bormio 2000, das wegen der noch hervorragenden Schneebedingungen gut besucht ist. Ich versuche einen Sightseeing-Anflug auf die strahlend weiße Südflanke der berühmten Dreiergruppe Ortler, Monte Zebru und Königspitze. Mit ca. 3900 Metern Höhe ist der Ortler der höchste Gipfel Tirols. An einen Überflug der eisigen Gipfelregion ist daher bei Basishöhen um 3300 Metern leider nicht zu denken. Als ich auch unter den durchsichtigen Wolkenfetzen vor der stärker ausgeaperten Südflanke der Cresta di Reit westlich des Ortler kein Steigen finde, erinnere ich mich an die Zielgleitzahl 25 und orientiere mich rasch wieder Richtung Westen zur letzten bekannten Aufwindstelle. Am Abend wird mir SeeYou verraten, dass ich mich König Ortler bis auf sieben Kilometer annähern konnte.
Um 16.25 Uhr UTC, genau eine Stunde vor Sunset, melde ich aus 300 Metern über Grund ‚Delta Whisky in Procedura Due-Sette‘ und lande vorsichtig gegen die tiefstehende Sonne. Am nahen Sassella-Hang achtet noch ein Doppelsitzer der Flugschule im westlichen Talwind. Ich schiebe die eiskalten Flächen des Discus in den Hänger und freue mich darauf, beim Abendessen mit einem Glas Valtellina Superiore Sassella auf den eindrucksvollen Flugtag anzustoßen. Und die Begegnung mit dem Ortler-Gipfel aus nächster Nähe bleibt fürs nächste Jahr auf meiner fliegerischen Wunschliste.
von Martin Woertler
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